Johann Heinrich Voß war seinen Zeitgenossen zunächst als Verfasser idyllischer Gedichte und scharfer Polemiken bekannt. In die Literaturgeschichte ging er aber vor allem als Übersetzer ein. Er übertrug u. a. Vergil, Horaz und Theokrit im Versmaß der Originale und trat mit einem deutschen Shakespeare in Konkurrenz zur Schlegel-Tieck'schen Shakespeare-Ausgabe. Epochale Bedeutung erlangte er mit seiner Homer-Übersetzung. Als 1793 die vierbändige Gesamtausgabe der Homerischen Epen erschien, war das Publikum allerdings zunächst befremdet: Nie zuvor hatte ein Übersetzer versucht, sich derart eng an die griechische Vorlage anzulehnen. Erst mit späteren Auflagen erlangte die Übersetzung den kanonischen Status, den sie bis heute behauptet. Dennoch blieb das Urteil über Voß stets gespalten: Für seine sprachschöpferische Leistung wurde er bewundert, für seine Pedanterie geschmäht.
Der aus einer Tagung hervorgegangene Band versteht sich als Beitrag zu einer differenzierteren Würdigung Voß' innerhalb der Literatur- und Übersetzungsgeschichte. Untersucht werden die Genese der Voß'schen Übersetzungssprache, die Aufnahme der Übersetzungen bei zeitgenössischen Autoren und ihre Wirkung im 19. und 20. Jahrhundert. Ein besonderer Fokus liegt auf der Problematik der Nachahmung antiker Verse, die in der Forschung nach wie vor nicht ausreichend berücksichtigt wird. Ergänzt wird der Band durch eine Edition des Briefwechsels zwischen Heinrich Voß (dem Sohn) und Karl Wilhelm Ferdinand Solger, der u. a. Einblick in die Entstehung von Solgers bedeutender Sophokles-Übersetzung und in das Verhältnis des jüngeren Voß zu Goethe gibt.