Bekanntlich ist es für den Politologen besser, auf die Verfassungswirklich keit zu warten, bevor er es wagen sollte, ein neues Regierungssystem zu analysieren und zu interpretieren. Er weiß, daß der Regierungsprozeß in seiner Dynamik und unter dem Einfluß unvorhergesehener und unvorher sehbarer Faktoren oft Regeln gehorcht, die nicht unbedingt denen ent sprechen, die der Verfassungstext fixiert hat. Diese Vorsicht ist doppelt am Platze, wenn es sich um ein Regierungssystem wie das der V. Republik han delt, wo der Text der Verfassung herzlich wenig, die überragende Persön lichkeit eines Mannes dagegen fast alles zu bedeuten scheint. Was die Ver fassungstheorie anlangt, ist die Veränderung gegenüber der IV. Republik in der Tat einschneidend. Wer vermöchte aber heute zu sagen, ob und inwie weit es sich dabei um einen Bruch, um eine Wendung, um eine Wandlung im fundamentalen, historisch und sozial bedingten Verhalten der Franzosen handelt? Man hat allen Grund zum Mißtrauen. Hinter dem ständigen Wechsel der Regime in Frankreich verbarg sich, wenigstens bis zum Jahre 1958, eine durchaus sinnvolle Kontinuität. Diese gebotene Vorsicht darf nun aber nicht einen Vorwand zur Un tätigkeit liefern. Im Gegenteil schien es uns sinnvoll, zunächst einmal das Material zu sammeln und zuverläßlich zugänglich zu machen, das zum Ver ständnis der theoretischen Grundlagen und einiger konkreter Gegeben heiten des neuen Regimes unentbehrlich ist. Über die V. Republik ist schon viel geschrieben, aber es ist auch viel an ihr gesündigt worden.