Von Freiheit, Liebe und Begehren ... und der rauen Wirklichkeit
Die Titelgeschichte dieses Erzählbandes ist ein autobiografisch gefärbter Rückblick auf die 70er Jahre und nimmt den Leser/die Leserin mit auf den Balkan. Die Ich-Erzählerin reist als Delegierte einer kommunistischen Splitterpartei an der Seite der Schriftstellerin Arjeta ("Goldenes Leben") durch Albanien in der Hoffnung, teilzuhaben am sozialistischen Befreiungsprogramm des "neuen Menschen".
Die Begegnung der beiden Frauen, das Fremdsein, die sich ent-
wickelnde Nähe spiegeln sich im inneren, streitbaren Dialog der Ich-Erzählerin mit ihrem Alter Ego, das auf den Decknamen Jana hört und für die "reine Lehre" zuständig ist. Im Verlauf der Reise baut sich eine beklemmende Spannung auf, die für die Ich-Erzählerin damit enden wird, dass sie aus ihrer Partei "hinausgesäubert" wird - in der Bundesrepublik damals nichts weiter als Theaterdonner.
Erst im späteren Rückblick erschließt sich die Frage: Wird Arjeta, die albanische Freundin, ebenfalls Opfer der nächsten Säuberungswelle sein - in diesem Fall mit all den tragischen Folgen, die ein realkommunistisches System an der Macht zu bieten hat?
Ellen Widmaiers erzählt spannend, poetisch, mit melancholischem Witz. Ihre Erzählungen kreisen thematisch um Freiheit, Liebe, Begehren, und loten aus, wie diese zutiefst menschliche Wunschkonstellation immer wieder gefährdet ist durch den Einbruch der Realität, sei es in der Form geschichtlicher Gewalt und deren Spätfolgen ("Sterne", "Erben"), sei es durch eine Umweltkatastrophe ("Regnerische Nächte"), sei es durch Gewalt im "sozialen Nahbereich". In "Mein letzter Sommer mit Svenja" erzählt die Autorin aus der Perspektive einer streunenden Katze, die in einer idyllischen Bucht der griechischen Ägäis Zeugin eines sexuellen Übergriffs wird. Kind und Katze haben sich angefreundet, der Täter wird nicht entkommen ...
Doch auch der "ganz normale" Alltag bietet genug Herausforderungen, will man seine Wünsche nicht verraten: In "Kein Romeo" rächt sich eine junge Sizilianerin auf originelle Weise an ihrem Liebsten, der zum Don Giovanni mutiert ... Eine Lehrerin testet nach einer Romanlektüre die militärische Befehlsform, die sie eigentlich strikt ablehnt, um ihr erotisches Repertoire zu erweitern ... Und am Ende des Buches flieht ein "Schulmädchen" aus den beengenden Lebensverhältnissen des Dorfes in die "Stadt mit S und elf Buchstaben". Ist das eine Liebeserklärung an Saarbrücken?