Erster Abschnitt:
Die Reformation in Deutschland
"Reformation der Kirche" - dieser Kampfruf stammt nicht aus der
Bewegung, die mit demWittenberger Augustinermönch Martin Luther
und seinen 95 Thesen begann und im 16. Jahrhundert in
Deutschland und vielen europäischen Ländern zu einer grundlegenden
Neugestaltung der Kirche und zum Abfall von Rom führte.
"Reformation der Kirche" - dies war die Parole der Reformbewegung
des frühen 15. Jahrhunderts. Jener Bewegung, die auf den Konzilien
von Konstanz (1414-1418) und Basel (1431-1449) zugleich
mit der Überwindung des Schismas zwischen Rom und Avignon
auch eine Erneuerung der Kirche an Haupt und Gliedern, eine "reformatio
ecclesiae in capite et membris" erreichen wollte. Aber die
große kirchliche Reformbewegung des Spätmittelalters war gescheitert.
Der Versuch der auf dem Konzil von Basel repräsentierten
abendländischen Gesamtkirche, eine universale, die ganze europäische
Christenheit und das gesamte geistliche und weltliche Leben
umfassende Reformation insWerk zu setzen, wurde von Rom vereitelt.
Denn durch die Reformation wäre das Papsttum aus seiner
monarchischen Stellung verdrängt und das Konzil als höchste kirchliche
Gewalt über das Papsttum gestellt worden. Indem das
Papsttum den Angriff auf seine Machtstellung abschlug und den
Konziliarismus verdammte, trug es den Gedanken der Reformation
der Kirche mit zu Grabe. Für das in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts
vollends verweltlichte Renaissancepapsttum, dessen Interessen
sich ganz auf seinen italienischen Kirchenstaat richten, ist das
Thema "Reformation der Kirche" von der Tagesordnung verschwunden.
Daß es im frühen 16. Jahrhundert wieder auftaucht und
nun zur Parole einer die Einheit der abendländischen Christenheit
spaltenden kirchlichen Revolution wird, geht nicht zuletzt auf die
Versäumnisse und Fehlschläge des Konzilsjahrhunderts zurück.
Die konziliare Reformbewegung des 15. Jahrhunderts war eine
gesamteuropäische Bewegung gewesen. Ihr geistiges Zentrum lag in
der Universität Paris. Die Reformation des 16. Jahrhunderts ist im
Ansatz keine gesamteuropäische Bewegung mehr, sie geht allein von
Deutschland, von einer recht unbedeutenden deutschen Provinz-
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universität aus. Das hat seinen Hauptgrund in der letztlich unableitbaren
Tatsache des Auftretens von Martin Luther. Aber niemals hätten
Luthers 95 Thesen eine reformatorische Bewegung in Deutschland
hervorrufen können, wenn nicht gerade hier das Verlangen
nach der Reformation der Kirche so lebendig geblieben wäre wie in
keinem anderen Land.
DieWiederherstellung seiner Macht in der Mitte des 15. Jahrhunderts
hatte das Papsttum mit großen Zugeständnissen an die europäischen
Mächte erkauft. Es mußte zusehen, wie Frankreich in der
Pragmatischen Sanktion von Bourges (1438) seine gallikanischen
Freiheiten gegenüber Rom proklamierte, die Reformdekrete des
Basler Konzils übernahm, die französische Kirche ganz dem kurialen
Einfluß entzog. Noch unmittelbar vor Ausbruch der deutschen
Reformation hat Rom im Konkordat mit Frankreich (1516) dessen
nationalkirchliche Freiheiten anerkennen müssen. Auch die beiden
anderen großen Nationen Westeuropas, England und Spanien, hatten
sich ein hohes Maß von Selbständigkeit gegenüber Rom erkämpft,
waren auf dem Wege, die katholische Kirche in den Staat
einzuordnen. Nur in Deutschland, das durch die Tradition des Heiligen
Römischen Reichs besonders eng mit Rom verbunden war,
hat das Papsttum seinen Einfluß wiedergewinnen und in der nachkonziliaren
Ära sogar noch weiter ausbauen können. Das unter
Kaiser Friedrich III. abgeschlossene Wiener Konkordat von 1448,
das formell bis zum Ende des alten Reiches in Geltung blieb, machte
dem Papst weitgehende Zugeständnisse und vereitelte jede Reform.
Der Papst erhielt maßgeblichen Einfluß auf die Besetzung
der geistlichen Stellen - mehr als die Hälfte der deutschen Stiftspfründen
wurde von Rom vergeben - und er empfing außerordentlich
hohe Einnahmen aus der Besteuerung der deutschen Kirche
(Palliengelder, Servitien, Expektanzen, Annaten usw.). Zwar haben
einzelne deutsche Fürsten in der Folgezeit günstigere Vereinbarungen
mit Rom erzielt, sie haben sich ähnliche landesherrliche Kirchengewalt
zusichern lassen wie die westeuropäischen Monarchen
- hier liegen die Ansätze zum landesherrlichen Kirchenregiment in
Deutschland. Aufs Ganze bleibt Roms Einfluß in Deutschland bedrückend
stark, stärker als in Frankreich, England und Spanien.
Nirgendwo in diesen Ländern hätte ein kuriales Finanzgeschäft abgewickelt
werden können von der Art des die deutsche Reformation
auslösenden Ablaßhandels.
Die Reformation in Deutschland
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Bald nach dem Abschluß des Wiener Konkordats, auf einem
Frankfurter Kurfürstentag 1456, sind die "Gravamina der deutschen
Nation" zusammengestellt worden, eine Sammlung der Deutschland
durch den römischen Stuhl auferlegten Beschwernisse. Die Gravamina
klagen Rom an, Deutschland nur als Objekt der Ausbeutung zu
betrachten. Sie beklagen die Eingriffe in die Stellenbesetzung, die finanzielle
Aussaugung, die Willkür der päpstlichen Gerichtsbarkeit.
"Nicht die Kirche selbst wird da angegriffen, es ist vielmehr ein einziger
Schrei der Empörung gegen die Ungebühr der Regierung in Rom:
Der Papst ist der Todfeind der deutschen Nation, denn er vernichtet
ihren Reichtum, ihre Freiheit und ihre Ehre" (R. Stadelmann). Auf
den deutschen Reichstagen immer wieder vorgetragen, amVorabend
der Reformation vom nationalbewußten deutschen Humanismus
aufgenommen, haben die Gravamina ein romfeindliches Klima geschaffen,
noch ehe Luther hervorgetreten ist. "Ohne die Gravamina
der deutschen Nation hätte die Nation jenem ersten Ruf Luthers
nicht geantwortet, wäre Luther nicht zum Reformator geworden,
wäre die Reformation nicht gekommen." (J. Lortz).
Das geistige Klima Deutschlands am Vorabend der Reformation
war romfeindlich, aber es war nicht kirchenfeindlich und schon gar
nicht irreligiös. Im Gegenteil: wohl nie hat kirchliches Leben in
Deutschland so geblüht wie um 1500. Die Kirche ist in allen Schichten
noch fraglos als die geistig führende Macht anerkannt. Die skeptischen
und paganistischen Strömungen der Renaissance, die in Italien
und Frankreich eine höhere Bildungsschicht von Kirche und
Christentum entfremden, fanden in Deutschland kaum Wurzelboden.
Der deutsche Humanismus war, von Einzelgestalten wie Conrad
Celtis abgesehen, eine Bildungsbewegung, die mit ihrer Abwendung
von der Scholastik und Metaphysik und ihrer Hinwendung
zur Philologie und Geschichte allenfalls die Schäden von Theologie
und Kirche kritisierte, doch die religiösen Grundlagen der mittelalterlichen
Kirche nicht verließ. Ja, imWerk des Erasmus von Rotterdam
ging der Humanismus soeben die Verbindung mit der christlichen
Theologie ein, bildete sich zu einem biblischen Humanismus
weiter, dessen reformerische Impulse auf eine innere Erneuerung der
Christenheit im Geist des biblischen Altertums zielten, den Rahmen
der bestehenden Kirche aber nirgendwo sprengten.
Die humanistische Pädagogik verband sich bei den "Brüdern vom
gemeinsamen Leben" mit der von der Tradition der deutschen My-
Einführung
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stik sich nährenden Frömmigkeit der Devotio moderna zu einer
kräftigen, die Verinnerlichung des religiösen Lebens und seine praktische
Bewährung im Alltag befördernden Reformbewegung, die
um 1500 durch das Schulwesen der Brüder auch Einfluß auf das
deutsche Stadtbürgertum gewann. Die Erfindung der Buchdruckerkunst
kam überwiegend dem Bedürfnis nach religiöser Bildung zu
gute. Wohlfeile Erbauungsbücher erlebten hohe Auflagen. In den
Städten wuchsen die spätgotischen Hallenkirchen empor, Predigtkirchen,
von deren Kanzeln die großen Volksprediger - ein Geiler
von Kaysersberg, ein Thomas Murner - das Volk zur Buße riefen.
Zugleich blühte an den Seitenaltären der Kirchen der Bilderkult; unüberschaubar
der Reichtum an christlicher Malerei und Plastik gerade
aus dieser Zeit. Es wuchsen die Meßstiftungen und mit ihnen die
Zahl der meßlesenden Kleriker, die in manchen Städten schon ein
Zehntel der Bevölkerung ausmachten.
Unersättlich war das religiöse Bedürfnis der Menschen dieser
Zeit, und es ist auffällig, daß es seine Befriedigung durchweg in dem
Angebot der Kirche findet. Die großen ketzerischen Bewegungen
sind um 1500 so gut wie verschwunden. Es sind die kirchlichen Formen
derWallfahrt, desWunderglaubens und des Reliquienkults, der
Heiligenverehrung und der Marienfrömmigkeit, zu denen die Menschen
Zuflucht nehmen. Mönchtum und kirchliche Bruderschaften
brauchen über mangelnden Zulauf nicht zu klagen. Man hat die Zeit
am Vorabend der Reformation ein "Zeitalter der höchsten Steigerung
der Kirchlichkeit" genannt (B. Moeller).
In dieser Atmosphäre einer aufs höchste gesteigerten Kirchlichkeit
zündet nun der Blitz der 95 Thesen. Es ist ein Mann, kaum berührt
vom Geist des Humanismus und vom Romhaß der Gravamina,
ein von der mittelalterlichen Scholastik geprägter, um das Heil
seiner Seele ringender Mönch und Professor der Theologie, von dem
der größte Umbruch in der Geschichte der Kirche ausgeht. Von der
kleinen kursächsischen Universitätsstadt Wittenberg aus bringt er
jene Bewegung in Gang, die nun in einmaligerWeise jenesWort von
der "Reformation der Kirche" auf sich gezogen hat.
Die Reformation in Deutschland
I Martin Luthers Werdegang bis zum
Durchbruch der reformatorischen
Erkenntnis
Jugend
Martin Luther wurde am 10. November 1483 in Eisleben in der im
südöstlichen Vorland des Harzes gelegenen Grafschaft Mansfeld geboren.
Der Vater entstammte einem thüringischen Bauerngeschlecht
aus Möhra bei Eisenach. Als ältester Sohn nach heimatlichem Recht
nicht erbberechtigt, hatte er sich seinen Beruf in dem im 16. Jahrhundert
aufblühenden Kupferbergbau gesucht. In der an Kupferminen
reichen Grafschaft Mansfeld, in die Hans Luther bald nach seiner
Heirat übersiedelte, ist dem strebsamen und tüchtigen Bergmann
der soziale Aufstieg nicht versagt geblieben. Vom einfachen Häuer
hat sich Hans Luther allmählich zu einem kleinen Unternehmer emporgearbeitet,
der am Gewinn von mehreren Schächten und Hütten
beteiligt war. Zur Primiz seines Sohnes konnte er 1507 die stattliche
Summe von 20 Gulden der Klosterküche spenden und mit zwanzig
von ihm freigehaltenen Gästen in Erfurt erscheinen. In Luthers Jugendzeit
wird es noch ärmlich zugegangen sein. Mindestens neun
Kinder hatte die Mutter zu versorgen, deren von Arbeit und Sorgen
ausgemergeltes Gesicht, wie es Lukas Cranach gemalt hat, etwas verblaßt
hinter der kraftvollen, lebensvollen Statur des Vaters.
Die Erziehung der Eltern war streng. "Ihr ernst und gestreng Leben,
das sie mit mir führten, das verursachte mich, daß ich darnach in
ein Kloster lief und ein Mönch wurde." Man hat aus solchen Äußerungen
auf einen unbewußten Vaterhaß des jungen Luther schließen
wollen und darin das spätere Ringen um den gnädigen Gott verwurzelt
gesehen. Aber wenn Luther sich der elterlichen Strenge erinnert,
so macht er gar keinen Unterschied zwischen Vater und Mutter. Es
ist die Mutter, von der er berichtet, sie habe ihn wegen einer Nuß so
hart geschlagen, daß das Blut floß. Und gerade vom Vater hat sich
ihm eingeprägt, wie, als er einmal den Sohn scheu gemacht hatte, ihm
"bange war, bis er mich wieder zu ihm gewöhnte".
Das Elternhaus pflegte eine normale kirchliche Frömmigkeit. Von
besonderen religiösen Einflüssen der frühen Jugendzeit wissen wir