Die Lebensform der freiheitlich-rechtsstaatlimen Demokratie ist, lustorisch gesehen, vorlaufig noch Episode. Ob dieser bislang anspruchsvollste aller Gesell- schaftsentwurfe Bestand haben wird oder ob er das menschliche Vermoegen zur Schaffung einer politischen Kultur der offenen Gesellschaft nicht uber- zieht, wird sich erst in der Zukunft ausmachen lassen. Seinen starksten Impuls empfing das Streben nach diesem Ziel bislang aus dem moralischen Bewusst- sein von der gleichen Wurde aller Menschen und, daraus entspringend, dem moralischen Anspruch auf Selbstbestimmung des einzelnen Mensmen (zumin- dest im Sinne des Aussmlusses der Fremdbestimmung durch andere Menschen), wie es zumal die judisch-christliche Religion in ihrer Aussage von der Gottes- kindschaft jedes Einzelnen festgehalten hat. Gleichzeitig aber erfahrt dieses Streben aus denselben Ideen der Gleichheit und Freiheit seine tiefste Bedro- hung. Es ist eine nahezu antagonistische Dialektik, dass in der gesellschaft- limen Wirklichkeit die Freiheit des einen zur Minderung der Freiheit des anderen, wenn nimt zu seiner Unfreiheit fuhrt, eine Entwicklung, die ins- besondere dadurch heraufbesmworen wird, dass die Reduktion rechtlimer Gewahrleistungen auf die Chancengleichheit nach Art oekonomischer Wett- bewerbsmodelle zur Kristallisierung gesellschaftlimer, insbesondere wirtsmaft- licher und mit ihr politischer Macht in den Handen weniger fuhrt 1). Es ist das historische Verdienst des Marxismus, dieses Krebsgeschwur der Demokratie der burgerlichen Gesellschaft mit Nachdruck ins politische Bewusstsein gehoben zu haben, wenngleich es langst vorher, z. B. von PLATON, JAMES MADISON oder ALEXIS DE TOCQUEVILLE, als latente Gefahrdung jeder an Freiheit und Gleichheit orientierten Gesellschaft diagnostiziert worden war.