Passagiere und Papiere ist ein Buch über eine vergessene Urszene der Moderne. In den bürokratischen Ritualen der Narrativierung und Verschriftlichung, durch die all jene infamen Menschen in den Status von legalen Personen initiiert wurden, die an Bord eines Schiffes nach Amerika gehen wollten, wird nicht nur das moderne Untertanensubjekt erfunden, sondern wird auch die Maske zum Träger der Person und Wirklichkeit unlösbar gebunden an ihre papierene Repräsentation.
Der Krieg der spanischen Krone gegen die eigene Bevölkerung im 16. Jahrhundert, gegen konvertierte Juden und Mauren, aber auch gegen Arme und Vagabunden, produziert an der Schwelle zur Neuen Welt eine immense kleine Literatur: Ausreiseanträge, Verhörsprotokolle, Zeugenaussagen, Passagierlisten. Von 1535 an durfte niemand mehr in Sevilla ein Schiff besteigen, der nicht vorher in schriftlicher Form vor einem Richter schriftliche Zeugnisse von seiner Identität, seiner Herkunft, seinem anständigen Leben, seinen Narben und Malen erbracht hatte. Das Indienhaus, die »Casa de la Contratación«, wurde so zu einem der ersten Orte in Europa, wo das Beschrieben- und Ezähltwerden aufhörte, ein Privileg der Mächtigen zu sein, und anfing, ein Mittel der Überwachung und der Kontrolle zu werden.
Bernhard Siegert rekonstruiert anhand bisher kaum erforschter Quellen aus dem Archivo General de Indias in Sevilla die Rituale und Prozeduren der Legitimation, der Narrativierung, der Registrierung und der Fiktionalisierung, die all jene durchlaufen mußten, die im 16. Jahrhundert an Bord eines der Schiffe nach Amerika gehen wollten. Auf der anderen Seite des Ozeans schließlich verzahnen sich die Passagierlisten mit Einwohnerverzeichnissen und Siedlungstopographien. Das Seßhaftmachen der Passagiere bringt rasterförmige Register und registerförmige Raster ins Spiel, die das »Am-Platz-Sein« von Menschen an ein »Am-Platz-Sein« von Lettern binden.