Die jüngeren Untersuchungen zur Devianz in der griechisch-römischen Antike haben sich auf den polemischen Gebrauch des Wortes superstitio konzentriert, das in unterschiedlichen Kontexten zur Ausgrenzung sozialer Gruppen, ethnischer Minoritäten, von Frauen oder bestimmten religiösen Praktiken verwendet wird. Jörg Rüpke unternimmt den Versuch, daraus auch Informationen über Bandbreiten und Intensivierungsformen religiöser Praktiken zu gewinnen: Was sind die Grundannahmen der normativen Äußerungen über Religion? Die Annahme authentischer und individuell verbindlicher religiöser Kommunikation von einzelnen mit Göttern ist ein von Cicero bis in die spätantiken Gesetze weithin geteilter Ausgangspunkt, der die Normierung religiösen Verhaltens vor große Schwierigkeiten stellt. Der Umgang mit religiösen Entscheidungen einzelner über Sakralisierung von Gegenständen oder Kultstätten erfordert so oft umständliche Konstruktionen, um die Verbindlichkeit für Dritte einzuschränken. Vor diesem Hintergrund ist es bezeichnend, dass sich auch die Polemiken auf bestimmte Felder konzentrieren, die sich am besten mit dem Begriff individueller "Erfahrung" beschreiben lassen. Hier spielt die Divination - der Zugang zu göttlichem Wissen oder, anders ausgedrückt, göttliche Offenbarung - eine wichtige Rolle. Große Bedeutung besitzt auch die Begegnung mit Götterbildern, zumal in Tempeln. Die Untersuchung polemischer Äußerungen eröffnet hier einen Zugang zur Konzeptualisierung religiöser Erfahrung, unbeschadet der normativen Wertung, die sich sofort anschließt.