Es gibt nicht viele Fachtexte, die uber Generationen hinweg fast jeder Germanist kennt - und kaum einen, der bis heute solch gegensatzliche Reaktionen hervorruft wie Emil Staigers Die Kunst der Interpretation (1955). Dieses Buch hat die Wahrnehmung einer ganzen Epoche der Literaturwissenschaft gepragt. Keine Publikation zur Geschichte des Faches, kein Methodenseminar, in dem Staigers Studie nicht als wichtigstes Beispiel fur die sog. werkimmanente Interpretation genannt wurde. Die Kunst der Interpretation ist ein Schlagwort, das in den Feuilletons bis heute gerne verwendet wird, in der Regel jedoch mit ironischem Unterton. Beruhmt und umstritten zugleich - die Wirkungsgeschichte des Buches koennte widerspruchlicher kaum sein.
Das 50-jahrige Publikationsjubilaum ist Anlass, der Frage nachzugehen, welche Bedeutung Staigers Ansatz noch oder wieder zukommt. Dabei geht es ebenso wenig um einen einseitigen Wiederaufwertungsversuch wie um die Fortfuhrung der ritualisierten Staiger-Schelte. Literaturwissenschaftler und Literaturdidaktiker treten in den lange vernachlassigten Dialog; literaturtheoretische und fachgeschichtliche Perspektiven werden erganzt durch detaillierte Textinterpretationen. Zugleich lasst das Buch die Sichtweisen mehrerer Generationen deutlich werden - von Literaturwissenschaftlern, die noch bei Staiger studiert bzw. promoviert haben bis hin zu Vertreter(inne)n der jungeren Germanistengeneration.