Mit seiner Studie leistet Frank Neubacher einen interdisziplinären Brückenschlag zwischen Völkerrecht und Kriminalwissenschaften, indem er u.a. den Prozess der Normgenese und Normimplementation im internationalen Strafrecht (Völkerstrafrecht) nachvollzieht. Methodisch stützt er sich auf den labeling approach, wonach delinquentes Verhalten nicht ohne Bezug zu den gesellschaftlichen Interaktionen und Definitionen analysiert werden kann, die das Prädikat "kriminell" zuschreiben oder, wie auf der Ebene von Staatsführungen deutlich wird, auch nicht zuschreiben. Der labeling-Ansatz wird jedoch, wo er heute nicht mehr überzeugen kann, modifiziert, um zu einer unvoreingenommenen Analyse der Entwicklung des internationalen Strafrechts vorzustoßen. Dadurch kann er mit ätiologischen Fragestellungen kombiniert sowie für die Frage geöffnet werden, inwieweit kriminologische Befunde eine internationale Strafgerichtsbarkeit legitimieren können. In diesem Zusammenhang geht der Autor u.a. auf empirische Erkenntnisse zur interkulturellen Schwereeinschätzung von Delikten, zur Viktimologie und zur individuellen strafrechtlichen Zurechnung von Systemunrecht ein. Er kommt zu dem Schluss, dass der wirksame Schutz von Menschenrechten eine Ausweitung des Kriminalitätsverständnisses auf das Handeln von Regierenden und Mächtigen erfordert und dass es zu einer funktionsfähigen internationalen Strafgerichtsbarkeit keine Alternative gibt.