Am Anfang der 39 Sekunden, die das Ende bedeuten, stehen Dunkelheit, Ungewißheit und Vergessen. Wo ist Christian Rauch angekommen? Was für eine merkwürdige Stadt umgibt ihn? In höchst eigentümlichen, verschwimmenden Bildern gleitet die Umgebung an ihm vorüber, Zeit und Raum scheinen aufgelöst. Eine Gestalt kommt ihm zu Hilfe, die ebenso verläßlich wie bedrohlich wirkt. Nach und nach, auf der Irrfahrt durch eine phantastische Stadtszenerie, steigen Erinnerungen auf: Wieder läuft Christian hinter Robert, dem großen Bruder, her, wie immer als sein kleinerer Schatten. Der See liegt hinter ihnen, die geangelten Fische zucken im Drahtkorb, die Kindersandalen knirschen im Kies. Vor ihnen in der Garteneinfahrt stehen drei Erwachsene, auf denen eine bedrückende Stille lastet. Die Mutter bleibt stumm, das Gesicht des Vaters ist erstarrt. An den Fremden darf man, soviel ist sicher, keineswegs das Wort richten.
Für die beiden Jungen ist es der letzte Abend ihrer Kindheit, der Tag, an dem sie aus ihrem behüteten Leben herausgerissen werden - Robert, weil er zu verstehen beginnt, Christian, weil er ahnt, was er nicht wissen will. Vierzig Jahre später noch treffen Christian diese Erinnerungen mit zerstörerischer Gewalt.
Thomas Lehr hat nach dem Roman "Nabokovs Katze" in dieser Novelle erneut ein literarisches Wagnis unternommen: In 39 Kapiteln werden die letzten 39 Sekunden eines Mannes in einer Sprache berichtet, die der extremen Situation entspricht und dem Gegenstand, einer Meditation über Wahrheit und Schuld.