Albrecht Ritschl bestimmte mit seiner theologischen Schule die deutsche protestantische Theologie von ca. 1875 bis zum ersten Weltkrieg. Sein Schuler Adolf Harnack war unbestritten der bedeutendste akademische Theologe der Jahrhundertwende und eine zentrale Figur in der Welt der Wissenschaften. Die dialektische Theologie, die nach 1914 einen entschlossenen Bruch mit der Generation ihrer Lehrer vollzog, war durch die Fragestellungen und zu einem bedeutenden Teil auch noch durch Loesungsstrategien der Ritschlianer gepragt. Der Briefwechsel zwischen Ritschl und Harnack eroeffnet einen tiefen Einblick in die Formierung der Ritschlschen Schule, in die fundamentaltheologischen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Richtungen der deutschen evangelischen Theologie in der Kaiserzeit und in die bisher nur sparlich erschlossene Biografie und den theologischen Werdegang des jungen Harnack. Der Sohn des konfessionellen Lutheraners Theodosius Harnack wurde von Ritschl nicht nur zu seiner traditionskritischen Dogmengeschichtsforschung inspiriert. Vielmehr kreist Harnacks Denken in der Zeit des Werdens gerade um Ritschls Entwurf einer dogmatischen Position. Der "Unterricht in der christlichen Religion" von 1875 bietet fur Harnack eine Alternative zur anerzogenen lutherischen Orthodoxie. Allerdings wunscht er nach einer gewissen Zeit, dass Ritschl sich noch starker von der Tradition - auch von der biblischen - lossage und sich deutlicher zur Aufklarungstheologie bekenne. Ritschl aber profiliert sich nun gerade gegen dieselbe. Es kommt zu einem Zerwurfnis, das kaum noch zu uberbrucken ist.