Leben in einem unvollkommenen Universum
Seit Jahrtausenden versuchen Schamanen und Philosophen, Glaubige und Unglaubige, Kunstler und Wissenschaftler, sich unser Dasein anhand der Vorstellung zu erklaren, alles sei miteinander verbunden und wir seien Teil eines ratselhaften, alles umspannenden Einen. Menschen gehen in Tempel, Kirchen, Moscheen und Synagogen, um ihre heilige Form des Einen anzubeten. Wissenschaftler vertreten schon seit langem ein erstaunlich ahnliches Konzept: dass namlich der augenscheinlichen Komplexitat der Natur eine viel einfachere Wirklichkeit zu Grunde liegt. In seiner modernen Form soll eine "Theorie von Allem" die physikalischen Gesetze grosser Koerper (Einsteins Relativitatstheorie) mit denen winzig kleiner Koerper (Quantenmechanik) in einem einzigen System vereinen. Doch trotz grosser Leistungen vieler exzellenter Denker ist eine solche Theorie von Allem unerreichbar. Denn wie sich zeigt, ist das Universum keineswegs elegant - sondern ein wunderbares Durcheinander.
Mit seinem kuhnen Buch setzt sich der preisgekroente Physiker Marcelo Gleiser von zweieinhalb Jahrtausenden wissenschaftlichen Denkens ab: Er zeigt darin, dass die Suche nach der Theorie von Allem ein Irrweg ist, und erlautert, welch gravierende Auswirkungen dieser Paradigmenwechsel fur die Menschheit hat. Alles, was ist, geht aus grundlegenden Unvollkommenheiten, aus primordialen Asymmetrien der Materie und der Zeit, aus zufalligen Katastrophen in der fruhen Erdgeschichte und aus Kopierfehlern bei der Genteilung hervor. Schoepfung entspringt aus Asymmetrie. Ohne Ungleichgewichte und Unvollkommenheiten ware das Universum nichts als gleichmassige Strahlung.
Die unvollkommene Schoepfung ist der Aufruf zu einem neuen Anthropozentrismus, der den Menschen wieder in den Mittelpunkt stellt. Alles Leben, insbesondere intelligentes Leben, ist ein seltener und kostbarer Zufall. Unsere Gegenwart auf diesem Planeten hat uber sich selbst hinaus keine Bedeutung, doch sie hat eine Bedeutung. Die ungeplante Komplexitat der Menschheit ist gerade dank ihrer Unwahrscheinlichkeit umso schoener. Fur die Wissenschaft ist es ist an der Zeit, die alte AEsthetik loszulassen, die das Vollkommene als schoen bezeichnet und derzufolge "Schoenheit gleich Wahrheit" ist. Es ist an der Zeit, die Indizien ohne den Ballast aus Jahrhunderten des Monotheismus zu betrachten. In seinem glasklaren und uberaus anschaulichen Buch fuhrt uns Marcelo Gleiser auf eine Reise von den grundlegenden Theorien bis an die vordersten Grenzen der aktuellen wissenschaftlichen Forschung - eine Reise, die ihn selbst vom Vereiniger zum Zweifler werden liess und ihn zu einer ganz neuen Erkenntnis brachte, was es heisst, Mensch zu sein.
Translated by: Michael Traut