In der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts erfand ein unbekannter Autor einen Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus. Die vierzehn kurzen Briefe, acht vom Philosophen, sechs vom Apostel, sind in sehr schlechtem spätantikem Latein geschrieben und weitgehend inhaltslos. Ihr Ziel ist es, mittels eines Austauschs von freundschaftlichen Billetts, wie er unter den Intellektuellen der Spätantike üblich war, Seneca zum Freund des Paulus zu machen und so das hohe Ansehen Senecas in der spätantiken lateinischen Theologie apostolisch zu sanktionieren. Diese Fiktion war sehr erfolgreich und regte im Laufe der Geschichte immer wieder zu Spekulationen über das Verhältnis zwischen Stoa und Christentum an. Dieser Band bietet eine neue Übersetzung des Briefwechsels auf der Basis der neuesten kritischen Edition, versehen mit einer Einleitung, Erläuterungen und Testimonien. Ferner werden zwei wenig bekannte Texte aus dem Umfeld des Briefwechsels abgedruckt, erstmals übersetzt und erläutert: ein angeblicher Brief des Mordechai an Alexander den Großen aus einer Fassung des Alexanderromans und ein Brief Senecas über Hochmut und Götterbilder, eine christliche Apologie aus dem 5. Jahrhundert. Die Essays behandeln zentrale Probleme des Verhältnisses zwischen Stoa und Christentum (Gottesbild und Ethik) sowie die Seneca-Rezeption vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit.