Seit der Antike war das Wahrscheinliche vom wahren Wissen ausgeschlossen. Wahrscheinliche Urteile sollten lebensweltlich orientieren und Rechenschaft geben von einzelnen Ereignissen und Dingen, denen keine Wissenschaft dauerhafte Gestalt verleihen konnte.
Nach 1660 ändert sich das grundlegend. Im bloß Wahrscheinlichen siedelt sich exaktes Wissen an: die mathematische Theorie des Spiels. Gegen die bisherige wissenschaftsgeschichtliche Forschung läßt sich nun aber zeigen, daß der mathematische Begriff des Wahrscheinlichen keineswegs außerhalb literarischer Denk- und Schreibweisen entstand. An eine zerklüftete Diskussion von Philosophen, Juristen und Poetikern anknüpfend konnte Jakob Bernoulli in der "Kunst der Vermutung" (postum 1713) die mathematische Theorie als Formalisierung dessen vorstellen, was Rhetorik und Dialektik unter Wahrscheinlichkeit verstanden hatten. Das Bündnis zwischen dem, was sich sagen, schreiben und rechnen läßt, blieb bis zu Kant unbestritten. Die Wahrscheinlichkeiten der Mathematiker und Poetiker, die des modernen Romans und der Statistik gehörten also zwischen 1660 und 1800 einem gemeinsamen Feld an. Dieser erstaunliche Zusammenhang bündelt sich in der neuen Disziplin der Ästhetik (Baumgarten, Lambert): Im Schein der Wahrheit gehen sinnliches Erscheinen und logische Probabilität, Kalkül und mediale Technik zusammen.Die vorliegende Studie zeigt die Genese des Verbundes von Literatur und Wissenschaft und die Bruchlinien, die sich von Anfang an in wissenschaftlichen und literarischen Texten abzeichnen. Wahrscheinlichkeit wird dabei als Paradigma der rhetorischen Figuration des Wissens in der Moderne erkennbar. In diesem (Hans Blumenberg verwandten) Sinne liegt eine Grundlagenarbeit zur Rhetorik epistemischer Ordnungen vor.