Das Problem der Auseinandersetzung mit dem literarischen Erbe stellt sich besonders dringlich fur eine Generation von Autoren, die auf eine kulturelle Blutezeit folgt und nun die Wahl hat zwischen Epigonentum, radikaler Zasur oder produktiver Traditionsaneignung.
Gottfried Keller, dem gemeinhin eine besondere Affinitat zu Goethe nachgesagt wird, versucht sich an der Grundlegung eines Poetischen Realismus, in dem die Kunstprinzipien der Weimarer Klassik noch vernehmlich nachhallen. Im Zentrum der vorliegenden Untersuchung steht nun die Frage, wie Keller im Nachmarz die Aktualitat des zuvor schon allenthalben fur unzeitgemass erklarten Klassikers hypostasieren kann.
Der Realist interpretiert die Vollendung der Klassik, die durch Wirklichkeitsferne erkauft ist, als asthetische Antizipation kommender gesellschaftlicher Erfullung, als Vorschein realer Schonheit und Harmonie. Nach 1848 glaubt der burgerliche Demokrat Keller namentlich in der republikanisch verfassten Schweiz Ansatze zur Verwirklichung dieses Vorentwurfs zu erblicken; es scheint sich die Moglichkeit abzuzeichnen, Wirklichkeit und Schonheit synthetisieren und so den Hiatus zwischen Ideal und Realitat uberbrucken zu konnen. Der Poetische Realist, der diese Gegebenheiten darstellt, ist somit weniger ein Epigone als vielmehr eine Art Testamentsvollstrecker der Weimarer Klassik."