Die Berliner Neidhart-Handschrift R (mgf 1062 [Niederösterreich, ca. 1280]) enthält zehn Lieder, zu denen am Blattrand Strophen nachgetragen sind. Diese z.T. mit Zuordnungszeichen versehenen Randstrophen zeugen von einer Textvarianz, die bislang in keiner Ausgabe berücksichtigt wurde. Die vorliegende Studie erprobt an diesem begrenzten Textbestand Möglichkeiten und Grenzen der Erschließung von Fassungsvarianten, die den erhaltenen Handschriften zeitlich vorausgehen. Einen Anhaltspunkt hierfür liefern die bereits im 19. Jh. konstatierten spezifischen Verteilungsverhältnisse von Wort- und Versvarianten in der Überlieferung. Diese nämlich führen zur Vermutung, dass die Neidhart-Überlieferung auf eine Vorlage mit Wahlmöglichkeiten zurückgeht – d.h. auf eine Vorlage, die zu einzelnen Textelementen alternative Lesarten bot, zwischen denen bei der Liedproduktion gewählt werden konnte. Auf der Basis dieses Textentstehungsmodells lässt sich – so die These des vorliegenden Buches – die in R angezeigte Fassungsvarianz weitgehend rekonstruieren. Das Buch liefert damit einen grundlegenden Beitrag zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik von Neidharts Liedern.