Das geltende Volkervertragsrecht kennt lateinische Auslegungsregeln, deren Bedeutung fur die Rechtspraxis jedoch abzunehmen scheint. Der Ursprung dieser - gelegentlich pauschal als romisch bezeichneten - Regeln ist kaum systematisch untersucht worden. Die Arbeit sucht diese Lucke zu schliessen, unter Beschrankung auf solche Regeln der Vertragsauslegung, die an die Parteirolle als Schuldner oder Glaubiger bestimmter Pflichten anknupfen. In einer methodologischen Einleitung wird begrundet, dass eine Rezeption romischrechtlicher Regeln in das moderne Volkerrecht prinzipiell in Betracht kommt, da die Struktur des Volkerrechts derjenigen des Privatrechts, auch des romischen Privatrechts, verwandt ist. Der volkerrechtliche Ausgangsbefund wird sodann literarisch belegt und anhand neuerer Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofs uberpruft. Die denkbaren romischen Quellen werden zunachst im antiken Volkerrecht gesucht, das jedoch insgesamt kaum Auslegungserwagungen erkennen lasst, was im wesentlichen auf der politischen Dominanz Roms beruht. Das romische Privatrecht betreibt zwar Glaubiger- oder Schuldnerschutz, nicht aber in der hier diskutierten Typisierung. Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass eine sachliche Kontinuitat fixer Auslegungsregeln nicht nachweisbar ist. Romisches Rechtsdenken bleibt fur das Volkerrecht jedoch aufgrund der genannten Strukturahnlichkeiten bedeutsam."