Die Anthologien von Rudolf Borchardt (1877-1945) - Deutsche Denkreden, Ewiger Vorrat deutscher Poesie und Der Deutsche in der Landschaft (1925-27) - zählen neben Stefan Georges und Karl Wolfskehls Deutsche Dichtung (1900-1902), Hugo von Hofmannsthals Deutsches Lesebuch (1922/1926) oder Walter Benjamins Deutsche Menschen (1936) zu den bedeutendsten Anthologien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die vorliegende Studie unternimmt es erstmals, Borchardts Anthologien umfassend zu analysieren und zu kontextualisieren. Die eigenwillige Textauswahl, die teilweise drastischen Eingriffe in die versammelten Texte und der unverhohlene Absolutheitsanspruch des Herausgebers, nach dem allein in seinen Anthologien sich die wahre deutsche Tradition finden lasse, passen schlecht zu der Demut, die Herausgebern von Anthologien üblicherweise eigen ist. Hier wird deutlich, dass Borchardts Sammlungen nicht nur als literaturhistorische oder kanonbezogene Phänomene zu lesen sind, sondern vor allem als poetische. Indem die einzelnen Texte und ihre Dichter dabei dem konservativen kulturpolitischen Programm einer „Schöpferischen Restauration“ untergeordnet werden, erweisen sich Borchardts Anthologien als ein integraler Bestandteil seines Gesamtwerks.