Die Einsicht in die Polyvalenz poetischer Texte zähmt die noch jeder Form diskursiver Analyse von Kunstwerken eigene Tendenz, Sinn und Bedeutung festzuschreiben. Im Spannungsfeld zwischen der anarchischen “Lust am Text“ (Roland Barthes) und der “Wut des Verstehens“ (Jochen Hörisch) behaupten sich die ‘Lektüren’, die als Verstehensangebote der Vieldeutigkeit literarischer Werke durch Analysen von Form und Inhalt zur Sichtbarkeit verhelfen wollen, ohne ihnen den Atem abzuschnüren. Ihr Ziel ist es nicht, das “Rätsel“ (Adorno) literarischer Kunstwerke zu lösen, sondern es als “Rätsel“ in seinen vielfältigen Bedeutungsdimensionen erfahrbar zu machen. Von hier aus versammelt der vorliegende Band ’neue’ Lektüren als Angebot zum Gespräch und Herausforderung, Texte als Mittel intensiver Blicköffnungen zu begreifen, was nichts anderes heißt als: immer wieder aufs Neue zu lesen.
Der Band enthält Studien zu Medea-Bildern (Anna Chiarloni), Marie von Ebner-Eschenbachs Das Schädliche (Erika Tunner), der Figur des Juden in romantischen Märchen (Martha B. Helfer), der Reitergeschichte Hugo von Hofmannsthals (Heinz-Peter Preußer), der frühen Romantikerinnenrezeption (Anke Gilleir), Franz Kafkas Das Urteil (Gerhard P. Knapp), Robert Walsers Tobold II (Jaak De Vos), Lion Feuchtwangers Moskau 1937 (Anne Hartmann), der Exilerfahrung im Werk Franz Werfels (Hans Wagener), Erich Frieds Nachdichtung von Dylan Thomas’ Under Milk Wood (Jörg Thunecke), der Raumkonzeption in Erzähltexten Volker Brauns (Hans-Christian Stillmark), Eli Amirs Roman Nuri (Heidy Margrit Müller), Christa Wolfs Sommerstück (Roswitha Skare), Urs Widmers Der blaue Siphon (Henk Harbers), Christoph Marthalers Stunde Null (Christopher B. Balme), der Lyrik Heinz Czechowskis (Anthonya Visser), Erzähltexten von Judith Hermann und Susanne Fischer (Monika Shafi), Werner Fritschs Grabungen (Norbert Otto Eke) und zum Wissen um den Autor bei Neulektüren (Elrud Ibsch).