Nach dem Urteil der meisten deutschen Wahlforscher befindet sich der "radi- kal-modeme Wahler" auf dem Vormarsch (Gluchowski u. a. 2001: 199; vgl. Burklin 1994: 28; BurklinlKlein 1998: 81-96; Schultze 2001b: 561). Dieser sei an keine bestimme Partei gebunden und verstehe seine Stimmabgabe als echte (Aus-)Wahl, bei der er sowohl die bisherigen Leistungen der Parteien als auch deren im Wahlkampf prasentiertes Programm-und Personalangebot berucksichtige. Infolgedessen sei die Wahlentscheidung immer weniger Aus- druck einer sozialstrukturell fundierten Bindung an eine Partei und immer mehr das Resultat individueller Abwagungsprozesse. Zwar beeinflussten langfristige Erfahrungen weiterhin die Stimmabgabe, kurzfristige und situati- ve Einflusse gewannen jedoch an Bedeutung. Ursachlich fur diese Entwick- lung sind nach dem Dafurhalten der Wahlforschung die Veranderungen, denen modeme Industriegesellschaften unterliegen. Der als Folge der Tertia- risierung zu beobachtende berufs strukturelle Umbruch habe ebenso wie die voranschreitende Sakularisierung zu einem weiteren Abschmelzen der tradi- tionellen Tragermilieus der Parteien beigetragen. Die Bildungsexpansion fuhre zur Individualisierung und Pluralisierung persoenlicher Pragungen, Pra- ferenzen und Lebensstile. Traditionelle Formen der Vergemeinschaftung loes- ten sich mehr und mehr auf. Entsprechend orientiere sich das politische Ver- halten der Burger immer seltener an etablierten Normen und werde zuneh- mend einem Kosten-Nutzen-Kalkul unterworfen. Neuere Arbeiten relativieren die These von der Ausbreitung des moder- nen Wahlers und betonen, dass die meisten Burger sich keineswegs kurzfris- tig fur oder gegen eine Partei entscheiden (Muller 1998a; Brettschneider u. a. 2002).