Aus Leonardos kunstlerischem Werk und seinen umfangreichen schriftlichen Ausfuhrungen werden von der Kunstgeschichte haufig Zusammenhange abgeleitet, die einer genauen UEberprufung nicht standhalten. Die Vorstellung vom "Universalgenie" erweist sich zu grossen Teilen als Wunschkonstruktion. Leonardo, der sich selbst auch als schreibender Wissenschaftler versteht, vermag sich schriftlich nicht systematisch auszudrucken und seine durch Beobachtung und Zeichnung gewonnenen Erkenntnisse zu ordnen. Auf tausenden von Blattern ist kaum ein einziges Notat langer als eine Seite und zwischen den vielen Einzelnotizen fehlen ubergeifende geistige Verknupfungen. Fur wesentliche Werke kann es zudem keinerlei Einfluss der Texte auf seine Praxis geben, denn Leonardo bleibt bis etwa zu seinem 35. Lebensjahr schriftstellerisch stumm. Seine Bildsprache ist jedoch schon aufs hoechste ausdifferenziert, viele bedeutende Werke sind vollendet, bevor ihr Urheber die erste theoretische Zeile zu Papier bringt. Auch seine Zeichentechnik hat Leornado zu diesem Zeitpunkt bereits perfektioniert. Sein Einsatz von Text und Bild erfordert daher eine genauere Untersuchung. Mit welcher Zielsetzung und welchen Mitteln Leonardo zeichnen und schreiben muss, zeigen die Befragungen von Leonardos Exkursionen u. a. in die Bereiche der Anatomie, Technik, Perspektive, Proportion, Komposition und des Sfumato sowie auch die Analyse des Layouts seiner Notizbucher. Zusammengefuhrt werden die Beobachtungen zu woertlichen, zeichnerischen und gemalten Weltdeutungen in einer Analyse des auch fur die Leonardo-Rezeption paradigmatischen Blattes: Mann-im-Kreis-und-Quadrat. Unausgesprochen, aber nachweisbar, vereinen die Bereiche Text und Bild kein koharentes Wissensgebaude, sondern das Verlangen nach Autonomie der Kunst. Selbst in den Irrtumern des schriftstellernden "Wissenschaftlers" unternimmt Leonardo nichts anderes als die radikale Befreiung des Bildes.